Der Blick in die Ferne Anmerkungen zum Hoch-hinaus-Wollen und In-die-Ferne-Schweifen

Text Michael Stavarič  Fotos hiepler, brunier; Archiv Stavarič  Published Rickatschwende Magazin mayr 02, 2019

Ich erinnere mich daran, dass ich mit meinem Großvater einst einen Berg bestieg, nun ja, vielleicht nicht gerade den allergrößten seiner Gattung, einen Hügel demnach eher, der bis heute das Stadtzentrum von Brünn prägt. Dieser beflügelte eine ganze Weile meine kindliche Fantasie, wo ich doch dort oben, am Gipfel, allerlei Geheimnisse vermutete, die mir bislang verborgen geblieben waren. Schon seine Bezeichnung Spielberg ließ mich als Kind hellhörig werden: Was oder wer genau spielte dort? Und was erwartete denjenigen, der dorthin aufstieg? Schlicht – was spielte sich dort ab?

Es handelte sich um meinen ersten Spaziergang zur Hügelspitze, wo seit jeher eine mächtige und erhabene Burg thronte; der Weg schien für einen kleinen Jungen damals kein Ende zu nehmen, ich meine sogar, dass mich der Großvater ein Weilchen auf seine Schultern setzte, damit wir endlich vorankamen. Als wir schließlich oben angelangt waren, hob er mich erneut hoch, damit ich in aller Ruhe über die Brüstung der Burganlage spähen konnte: Unter mir lag meine Heimatstadt, die mir plötzlich fremd vorkam – ich sah sie schließlich zum ersten Mal aus der Vogelperspektive. Der Großvater meinte, dass man so die schönste Aussicht auf die Stadt hätte. Eine unverstellte Sicht könne man nur hier genießen, bei gutem Wetter weit ins Land blicken und sich endlich frei fühlen. Heute weiß ich, er empfand sich damals alles andere als frei. Ein kommunistisches Regime herrschte über das Land, und die Spaziergänge zum Gipfel des Spielbergs symbolisierten für ihn vor allem eines: Freiheit.

Etwas Unverstelltes, also im übertragenen Sinne Wahrhaftiges und Echtes zu betrachten, Natur- und Kulturlandschaften, die sich unter einem ausbreiten, die allesamt größer und bedeutsamer sind als gesellschaftliche Befindlichkeiten: Ich denke, dies ist allemal mit ein Grund, warum der Mensch nach oben strebt, in die Berge, auf Hochhäuser, Aussichtsplattformen und Ähnliches. Man möchte sich einen Moment lang symbolisch von irdischen Problemen lösen, sein Leben hinter sich lassen, die Natur- oder Kulturlandschaft er- oder befreit anerkennen. Man möchte sich Überblick verschaffen, um endlich alles in Ruhe für sich ordnen und bedenken zu können.

Immer dann, wenn wir Natur von oben betrachten, erwächst oder erneuert sich in vielen Menschen der Wunsch, diese zu schützen und bewahren zu wollen; es sind die unverstellten Perspektiven, die plötzlich vor uns liegenden Aussichten, die uns im positivsten Sinne zu beflügeln vermögen. Ähnliches berichten schließlich auch Astronauten, die jenen Moment, endlich die Erde zum ersten Mal als Kugel von oben zu betrachten, gar nicht in Worte fassen können. Sie sprechen von Freiheits- und Glücksgefühlen, die sie so noch nie erlebt hätten, denn erst aus dem Weltraum erkenne man die wahren Ausmaße unseres Planeten, seine Pracht und Herrlichkeit.

Ich kann nicht mehr genau sagen, welche beziehungsweise ob ich als Kind überhaupt Worte zu dieser ersten prächtigen Aussicht auf meine Heimatstadt parat gehabt hatte – vermutlich stand mir bloß der Mund offen. Von einem Berg auf die Erde zu schauen (auch wenn es lediglich ein Hügel war und ich nur auf Brünn blickte) war etwas völlig anderes, als etwa zu Hause (wir wohnten in einem mehrstöckigen Haus) aus dem Fenster zu spähen.

Auch ein gewisser Francesco Petrarca (seines Zeichens Dichter, Philosoph und Geschichtsschreiber) beschrieb im Jahre 1336 in einem erhalten gebliebenen Brief die Besteigung eines Berges namens Mont Ventoux als einen wahrhaftigen Schlüsselmoment seines Denkens und Seins: „Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahinfließenden Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst.“

Ich habe nicht von ungefähr eben jenen Petrarca auch in einem meiner Romane zu Wort kommen lassen, in welchem der Moment des Aufstiegs zu einer markanten Zäsur führt – man sieht die Welt danach mit anderen Augen: „Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht unverdient Ventosus, den Windumbrausten, nennt, habe ich am heutigen Tage bestiegen, einzig und allein von der Begierde getrieben, diese ungewöhnliche Höhenregion und die sich darunter ausbreitende Welt mit eigenen Augen zu erkennen.“

Ohne jemals wirklich Gelüste nach dem Bergsteigen als Sport verspürt zu haben, meine ich dennoch sagen zu können, dass es allen, die in die Höhe streben (abseits von sportlichen Herausforderungen), doch eigentlich um die unverstellte Aussicht, diese unmittelbarste Wahrnehmung der Ferne (also Freiheit) geht, und dass dieses Erlebnis etwas mit einem Menschen macht. Übrigens, auch historisch betrachtet markierte Petrarcas Bergbesteigung eine geistige Wende und persönliche Wandlung, da er fortan, entgegen mittelalterlichen Vorstellungen, die Welt nicht mehr als eine feindliche und für den Menschen verderbliche betrachtete (die bestenfalls eine Durchgangsstation in eine jenseitige Welt darstellte). Vielmehr sprach er ihr nach seinem Gipfelerlebnis einen unermesslichen Wert zu. Auch deshalb sehen bis heute viele Gelehrte nach wie vor in der Besteigung des Mont Ventoux einen kulturhistorischen Schlüsselmoment: Das Mittelalter ging mit dieser zu Ende – und es begann die (aufgeklärtere) Neuzeit.

Viele Jahrhunderte später, im Jahre 1953, erreichten schließlich der Bergsteiger Sir Edmund Hillary und der nepalesische Sherpa Tenzing Norgay erstmals den Gipfel des höchsten Berges der Erde: den Mount Everest. Als Hillary später gefragt wurde, warum er hohe Berge besteige, gab er lapidar zur Antwort: „Weil sie da sind.“ Ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass diese schlichte Antwort nur ironisch gemeint gewesen sein kann. Die beiden Männer mussten nach all den Strapazen von der Aussicht (und ihrer Leistung) überwältigt gewesen sein: Und die Berge waren natürlich da, und sie werden es auch noch sein, wenn die Existenz der Menschen längst verblasst ist. Gewiss will sich der Mensch immer wieder beweisen, unbekannte, unberührte Orte sollen entdeckt und erschlossen, die Grenzen des Machbaren verschoben werden und so weiter. Es liegt uns im Blut und in unserer Natur, und doch wird ein jeder, der lange genug in die Ferne blickt (ob nun von einem Berg aus oder auch einfach nur aufs Meer), eingestehen, dass es ganz intuitiv auch um etwas Größeres geht, dass sich in solchen Augenblicken unsere Selbstwahrnehmung verändert. Wir treten mit der Natur in Interaktion, unser Körper, unsere Sinne und Empfindungen reagieren unmittelbar auf solche Ereignisse.

Unabhängig von Alter und Kultur wird etwa eine grüne Hügellandschaft (die man von einem guten Aussichtspunkt aus betrachtet), also mit offenen Grasflächen und guter Übersicht, als angenehm empfunden. Wenn man nur weit in die Natur (oder auf das Meer) blicken kann anstatt in eine verstellte Betonwüste, sinkt nachweislich der Stresspegel. Ebenso gilt es als erwiesen, dass Patienten im Krankenhaus mit Blick ins Grüne (und generell einer guten Aussicht) rascher gesunden.

Wem das grundsätzlich zu sehr an den Haaren herbeigezogen scheint, den erinnere ich an ein paar weitere Fakten unserer biologischen (und noch weitaus stärker mit der Natur verbundenen) Vergangenheit: Wir alle erkennen nach wie vor Gesichter in Wolken, weil sich unsere Vorfahren vor Raubtieren fürchteten; sie mussten Augen- und Gesichtsformationen in unübersichtlichen Landschaften erkennen, davon hing nämlich ihr Überleben ab. Die Abscheu vor schrillen Geräuschen (Stichwort: Fingernägel auf Tafel) entspricht in seinen Frequenzen etc. dem Nachtwarnruf der Makaken, die damit auf Raubtiere hinweisen wollen. Und angeblich schwitzen wir nur deshalb, wenn wir Angst haben, damit uns diese nicht so leicht greifen können. Was ich damit aber eigentlich ausdrücken will: Wir alle sind geprägt von den Erfahrungen unserer Vorfahren, die in enger Verbindung mit ihrer Umgebung aufwuchsen, den Bergen, Tälern und Meeren. Und als vor ein paar Jahren bei einer Tagung des Touristikkonzerns TUI zum Thema „Was Touristen glücklich macht“ Wissenschaftler ihre diesbezüglichen Studien vorstellten, war der Reiseveranstalter nach den präsentierten Ergebnissen äußerst verwundert: Hotels, Personal, Budget, diverses Rahmenprogramm etc., all das war nach genaueren Analysen nicht sonderlich von Belang. Einzig und allein das Naturerlebnis selbst war schlussendlich für die Urlauber relevant, und die mit Abstand wichtigsten Urlaubswünsche waren: Die Weite des Meeres erleben und von einem Berggipfel ins Tal zu schauen. Alles, woran man sich ein Leben lang begeistert erinnert, ist und bleibt vornehmlich ein Verdienst der Natur.
Bei näherer Betrachtung ist auch beim Meer die Erfahrung der Ferne eine maßgebliche, ja es ist fast schon so, wie zu den Sternen hochzuschauen: Die Ozeane bleiben unbebaubar, und eine unverstellte Sicht auf die sich abzeichnende Erdrundung ist inbegriffen. Das Lichtwellenspektrum der blau-grün-türkisen Meeresfarben wirkt beruhigend, entkrampfend und stressmindernd. Und selbst das Wellenrauschen wird etwa von Hypnotherapeuten gerne eingesetzt, weil es unserem Atemrhythmus ähnelt.

Es bleibt jedenfalls festzuhalten: Steigen Sie, werte Leserinnen und Leser, auf den nächstbesten Hügel, vielleicht ja im Unterschied zu mir sogar auf einen richtigen Berg, und betrachten Sie die Welt als das, was sie ist … ein wahres Wunderwerk. Fahren Sie ans Meer, atmen Sie tief durch und lassen Sie Ihren Blick, wo immer es auch geht, in die Ferne schweifen. Buchen Sie nur Unterkünfte, die Ihnen eine unverstellte Sicht auf die Landschaft bieten und bedenken Sie Goethes Ratschlag, der einst sinngemäß schrieb: Die Natur ist ein stummer Meister, der schweigsame und glückliche Schüler hervorbringt. Dem ist nun wirklich nichts mehr hinzuzufügen …

 

Michael Stavarič, geb. 1972 in Brno (Tschecho­slowakei), lebt als freier Schriftsteller in Wien. Zahlreiche Sti­pendien und Auszeichnungen, zuletzt: Adelbert-von-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur.­ Lehraufträge zuletzt: Stefan Zweig Poetikdozentur an der Universität Salzburg. Aktuelle Publikationen: „Gotland“, Roman, Luchterhand, München 2017.

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