Es benötigt den Willen loszulassen Erfolgreich planen, nichts zu tun

Eric Gujer ist Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Wir fragten den Topjournalisten nach Stress im Arbeitsalltag, seinen Methoden, um zu entspannen und nach der Zukunft der gedruckten Tageszeitung. Schon zu Beginn sei verraten: Er hält sich nicht für unabkömmlich.

Text Luis Bentele Fotos Karin Hofer Foto- und Textredaktion agenturengel  Published Mayr Magazin, 2020

Herr Gujer, wie kommt ein Medienmacher wie Sie im Alltag runter, wie man so salopp sagt?
Eine wichtige Voraussetzung ist es, kein Sklave seines Mobiltelefons zu sein. Ferner benötigt man Zeit zum Nachdenken und Zeit fürs Nichtstun.

Wie bewerkstelligen Sie das? Schalten Sie Ihr Smartphone zu bestimmten Zeiten einfach ab?
Nein, ich muss für die Zeitung immer erreichbar sein, aber es gibt einen Kreis von Personen, der mich jederzeit anrufen kann. Für alle anderen Anfragen stellt meine Assistentin eine Art Nadelöhr dar. Es handelt sich bei dieser Geschichte um eine Frage der Organisation. Wenn man sagt, man sei rund um die Uhr unabkömmlich, dann ist das für manche auch eine Ausrede.

Wie meinen Sie das?
Wer sagt, er sei unabkömmlich, glaubt lediglich, er sei es. Wenn man als Führungsperson seine Hausaufgaben gemacht hat und über ein gutes Team von Stellvertretern und Kollegen verfügt, sollte es kein Problem sein, sich eine Auszeit zu organisieren.

Also heißen die Zauberworte Team und Organisation.
So ist es. Hinzu kommen die Bereitschaft und der Wille, auch wirklich loszulassen.

Wie sieht das aus, wenn Sie loslassen?
Das Wichtigste im Urlaub ist für mich Komplexitätsreduktion. Ich glaube, sehr viel Stress entsteht dadurch, weil wir meinen, ständig Entscheidungen treffen zu müssen, und wenn diese noch so klein sind. Auch die kleinen Entscheidungen verbrauchen Energie. Urlaub bedeutet das Privileg, die Komplexität des Alltags zu reduzieren, indem man nur am Strand liegt, Sport betreibt oder ein Buch liest. Oder sich eine Stadt anzuschauen, ohne ständig Entscheidungen treffen zu müssen oder sich zu überlegen, was man noch alles tun sollte.

Das klingt auch nach der Bereitschaft zur Spontanität.
Ja, auch das. Aber in erster Linie danach, zu planen, nichts zu tun. Es geht darum, Zeit für etwas zu haben, was man fälschlicherweise für Langeweile halten könnte. Das Entscheidende ist, so viel Muße zu haben, dass einen nichts beschäftigt.

Der Müßiggang als Energiequelle.
Auf jeden Fall. Auch wenn man meistens nicht sehr lange müßig geht, denn bald schon sprießen neue Ideen. Aber daraus entsteht eine neue Produktivität, die zunächst einmal sehr entspannend ist.

Hat es der Müßiggang in Zeiten wie diesen schwerer?
Ich denke, es ist gerade in Zeiten wie diesen entscheidend, sich bewusst Auszeiten zu nehmen, um einen Ausgleich zum täglichen Hamsterrad zu haben. Steckt man nur in Alltagsroutine, erschöpft man sehr schnell.

Welche Auszeiten gönnt sich Eric Gujer?
Nun, es gibt natürlich die Zeit der Ferien, aber auch andere. Journalisten, die sehr viel administrativ zu erledigen haben, und das gilt gerade für einen Chefredakteur, sollten immer wieder rauskommen, um neue Impulse zu bekommen. Ich war zum Beispiel Korrespondent in der ehemaligen Sowjetunion und deshalb war es für mich ein großes Vergnügen, vor kurzem wieder einmal in die Ukraine zu reisen. Ich halte auch das für eine Form von Ausbrechen aus dem Hamsterrad. Das sind für mich Voraussetzungen für das, was neumodisch „Work-Life-Balance“ genannt wird.

Als Zeitungsmacher, besonders als Chefredakteur, erleben Sie doch bestimmt immer wieder sehr stressige Phasen. Wie bewahren sie ruhig Blut, wenn es auf den Redaktionsschluss zugeht und es noch weiße Flecken in der Zeitung gibt?
Wir haben keinen Redaktionsschluss mehr. Wir produzieren rund um die Uhr und das an sieben Tagen. Auf nzz.ch ist nie Feierabend. Doch ich möchte Ihrer Frage nicht ausweichen. Zu Zeiten, als es den Redaktionsschluss noch gab, und das ist noch nicht so lange her, da hatten wir schon Situationen, in denen man um 17 Uhr die gesamte Planung für ein Ressort oder die Seite 1 umwerfen musste. Das bedeutet natürlich Stress, aber diesen Stress bewältigt man mit Professionalität. Wenn Sie das gewöhnt sind und Freude an einer solchen Situation finden, dann blühen Sie auf. Es ist schön, zu sehen, wie man sich in Nullkommanichts auf so etwas einstellen kann.

Welche Voraussetzungen benötigt es dafür?
Neben Stressresistenz die Bereitschaft, sich schnell auf etwas Neues einstellen zu können.

Ist das ein Talent, Charakter oder lernt man das?
Es gibt Menschen, die sehr kreativ sind, aber ihren festen Rhythmus benötigen. Thomas Mann war zum Beispiel so jemand. Als Journalist sollte man Freude am schnell Umschalten haben. Letztendlich ist es wahrscheinlich wirklich eine Typfrage. Lernen lässt sich das nur begrenzt.

Zurück zum Abschalten: Sie waren vor kurzem im Kurhotel Rickatschwende und haben eine F. X. Mayr Kur gebucht. War das Ihr erster Aufenthalt dieser Art?
Ja, es war das erste Mal, auch wenn meine
Frau und ich schon öfters in der Rickatschwende waren, allerdings im Nicht-Kurbetrieb, einfach um die Ruhe dort zu genießen. Wie so oft sind es die Frauen, die mutiger sind, also hat meine Frau zuerst eine solche Kur absolviert. Sie kam recht begeistert zurück, also beschloss ich, es auch einmal zu versuchen.

Hat so eine F. X. Mayr Kur nicht viel mit Selbstkasteiung zu tun? Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihrem inneren Schweinehund, wenn ich das so formulieren darf?
Mein innerer Schweinehund und ich, wir kennen uns recht gut, nehmen uns aber nicht allzu ernst. Ich lasse mich gerne auf Neues ein. Deshalb überlege ich mir nicht allzu lange, ob dieser Schweinehund eine andere Meinung haben könnte. Ich tue es einfach. Das einzige Thema, das man vor einer solchen Kur wirklich wälzt, ist das des Hungers.

Und?
Diese Frage hat sich eigenartigerweise am allerwenigsten gestellt, denn ich war nie hungrig.

Welche Frage hat sich gestellt?
Anfangs war es der Verzicht auf Kaffee. Ich bekam von den Entzugserscheinungen auf Kaffee Kopfschmerzen. Ansonsten verlief die Kur derart angenehm, dass ich sie nicht als Kasteiung bezeichnen würde.

Ist man trotzdem erleichtert, wenn man es geschafft hat?
Ich war zwei Wochen auf F. X. Mayr Kur. Viele buchen nur zehn Tage oder eine Woche. Eine Woche wäre mir zu kurz. Bis man so richtig runterkommt, braucht es ein Weilchen. Außerdem ist es schön, ein Wochenende zu haben, an dem man Pause von den Anwendungen hat, also frei von der Kur bzw. deren Rhythmus zu sein. Für mich sind zwei Wochen optimal.

Chefredaktor Neue Zürcher Zeitung Eric Gujer
Utoquai Zürich
(Bild: Karin Hofer / NZZ)

Würden Sie sich in Ihrem Alltag als Genießer bezeichnen?
Ich genieße schon, was das Leben zu bieten hat, allerdings in Maßen. Ich denke, dass es auf die Dosierung ankommt.

Waren Sie denn in Rickatschwende auch für Ihr Team erreichbar?
Ja, so wie immer. Und es hat tadellos funktioniert.

Ich stelle mir gerade vor, wie Sie mit einer Anwendung beschäftigt sind und plötzlich läutet das Telefon. Was tun Sie dann?
Man kann zurückrufen. Es gibt nichts, was eine unmittelbare, sofortige Entscheidung eines Menschen benötigt, der weit weg ist und gerade irgendwelche Wickel verabreicht bekommt. Dafür gibt es hochqualifizierte Journalisten, die im täglichen Betrieb arbeiten und diese Entscheidungen treffen können. Für die Zeit meiner Ferien stehe ich in der zweiten Reihe. Journalismus ist hoch arbeitsteilig und erfordert viel Delegieren. Das ist etwas, was viele nicht wissen, wenn sie an das Klischee des Journalisten denken.

Worauf legen Sie bei einem Kurhotel besonders großen Wert?
Auf ein ruhiges Ambiente, einen gewissen Standard betreffend Einrichtung, eine insgesamt behagliche Atmosphäre und gute Sportmöglichkeiten. In der Rickatschwende habe ich besonders das Schwimmbad und den Gymnastikraum schätzen gelernt. Wichtig ist natürlich auch gutes Essen, gerade wenn man wie bei F. X. Mayr nur sehr reduziert zu essen bekommt.

In Zeiten wie diesen ist der Begriff Burnout ein häufig vorkommender. Sie studierten unter anderem Geschichte. Zu welcher Zeit ging es den Menschen in unseren Breiten am besten?
In unserer Zeit! Weil die meisten von uns keine wirklichen existenziellen Sorgen haben. Es gibt bei uns keine Hungersnöte mehr. Früher sind sehr viele Menschen an Hunger gestorben. Das ist so weit von uns weg. Das war eine Form von Stress, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann.

Dennoch scheinen sehr viele Zeitgenossen sehr unzufrieden zu sein und von Existenzängsten geplagt zu werden. Wie geht das zusammen?
Wenn die Menschen von vielen existenziellen Sorgen entlastet sind, haben sie mehr Zeit, nachzudenken und ihren Emotionen nachzuspüren. Und damit kommt auch die Unzufriedenheit. Ich glaube, umso besser es uns materiell geht, desto gestresster sind wir geistig und emotional.

Sprechen wir über die Medienbranche: Welche Medien konsumiert ein Herr Gujer im Alltag?
Natürlich zuerst die eigene Zeitung, dann die schweizerische Konkurrenz und die internationale Presse. Ich rede von zwei deutschsprachigen, zwei englischsprachigen und einer französischen Zeitung, in denen ich „vorbeischaue“. Ich spreche von professionellem Lesen, das heißt, ich vertiefe mich nicht in diese Zeitungen, sondern picke heraus, was für mich wichtig ist. Man könnte von einem Überblickslesen sprechen, das in einzelnen Fällen vertieft wird. Viel mehr ist zeittechnisch gar nicht möglich. Die Voraussetzung für einen guten Journalisten ist, dass er schnell, aber sorgfältig querlesen kann.

Eine Frage, derer Sie wahrscheinlich schon überdrüssig sind: Wie sehen Sie die Zukunft der gedruckten Tageszeitung?
Dieser Frage bin ich nicht im geringsten Maße überdrüssig. Ich könnte sie stundenlang mit Ihnen erörtern. Das Problem ist, dass ich sie schlichtweg nicht beantworten kann.

Dann erörtern Sie es bitte.
Was unsere Leser in Zukunft lesen möchten, sei es auf Papier oder elektronisch auf allen möglichen Kanälen, kann zum jetzigen Zeitpunkt niemand sagen. So lange es unsere Leser möchten und es sich ökonomisch rechnet, werden wir die Zeitung drucken. Alles andere wäre dumm.

Würden Sie eine Prognose abgeben?
Es sind schon so viele Prognosen abgegeben worden. Bis dato waren alle falsch. Niemand kann voraussagen, wie sich Leser verhalten werden. Ich kann Ihnen nur sagen, dass Menschen über 45 in der Regel die gedruckte Zeitung oder ein E-Paper bevorzugen. Jüngere Leute entscheiden sich größtenteils für den steten Nachrichtenfluss. Sicher ist, dass es irgendwann keine klassische Tageszeitung mehr geben wird, wie wir sie heute kennen. Bis allerdings jene, die heute 45 sind, keine Zeitung mehr lesen, kann es noch recht lange dauern. Unterm Strich handelt es sich um eine wirtschaftliche Frage. Ab welcher Auflagenzahl rentiert es sich nicht mehr, eine Zeitung zu drucken und zu verteilen? Das lässt sich nicht ernsthaft prognostizieren. Und noch etwas: Das Wichtigste für eine Zeitung ist es, eine Beziehung zu seinen Lesern aufzubauen. Die basiert auf Glaubwürdigkeit, denn daraus entsteht eine Vertrauensbeziehung auf Augenhöhe, egal ob in Print oder Online. Das ist das Wichtigste. Journalisten sollten sich nicht als Sender und den Leser als Empfänger sehen. Es geht um einen Austausch. Haltung, Vertrauen und Nahbarkeit, so lauten die Schlagworte. Eine Zeitung sollte nicht irgend etwas in der Ferne sein. Print oder Online, diese Frage ist am Ende letztlich nur eine nach einem Kanal.

Apropos Verbindung und Vertrauen. Glauben Sie, dass man auch zu einem Haus wie der Rickatschwende eine Beziehung aufbaut?
Natürlich! Wenn man regelmäßig wieder an einen solchen Ort kommt, heißt das, dass es einem gefallen hat. Außerdem erwartet man immer wieder, dort etwas Neues, Spannendes und Interessantes zu finden. Das macht eine Beziehung aus. Ich werde wahrscheinlich nicht jedes Jahr eine Kur machen, aber doch in regelmäßigen Abständen. Das Fasten ist nicht das zentrale Thema eines solchen Aufenthaltes. Es geht ums Runterkommen und Ausklinken. Dabei hilft diese Konzentration auf den eigenen Körper, auf den wir uns als Menschen des 21. Jahrhunderts eher nicht so einlassen. Wir erwarten, dass er funktioniert und wenn die „Maschine“ läuft, ist alles gut. Wenn es nicht so ist, geht man zum Arzt oder wirft irgendeine Tablette ein. Die F. X. Mayr Kur zeigt einem hingegen, was es heißt, sich auf seinen Körper zu konzentrieren.

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